Mit diesem Ort verbinden mich viele Jugenderinnerungen. Da wir in der «Ilge» wohnten, schickte meine Mutter mich kleinen Buben nicht etwa zum Hafenplatz oder ans Seeufer, sondern in den häuserumhegten Lindenplatz zum Spielen. In der stillen, etwas abgeschiedenen, aber heimeligen Welt dieses Platzes genossen wir Buben in jenen geselligen Jahren, in denen man gerne Rudel bildet, ein reiches Mass an Freiheit. Indianer- und Zirkusromantik, Bubenkameradschaft, Waghalsigkeiten und endlose Spiele füllten unsere freien Stunden.
Warum unser Paradies «Lindenplatz» hiess, konnte ich mir damals nicht zusammenreimen. Sechzehn Ross-kastanienbäume umschlossen sein Rund, in dessen Mitte ein kleiner asthmatischer Springbrunnen ein Bassin füllte, das ein zierliches Geländer vor dem Zutritt schützte. Im Herbst warfen die Strassenkehrer das viele Laub ins entleerte Bassin, so dass wir darin, das Geländer mit Leichtigkeit übersteigend, unser «Laubhüttenfest», wie wir es nannten, feiern konnten. (Abb. l).

Lindenplatz1

Am Lindenplatz war immer etwas los, weshalb sich auch «zugewandte Orte» um den Beitritt zu unserem Bund bewarben. Die sechzehn Bäume gediehen herrlich und griffen mit ihrem Astwerk ineinander. So hatte sich bei unseren Kletterkünsten eine Art Ehrenkodex herausgebildet: ein richtiger Lindenplätzler musste imstande sein, sämtliche Bäume zu überklettern. Die Tour begann linksherum beim ersten südlichen Stamm, der zugleich der letzte war. Ein paar starke Nägel erleichterten den Aufstieg. Dann kletterte man an einem tragfähigen Ast, gegen den ein gleichartiger des Nachbarbaumes ragte, rittlings hinaus, machte in der Mitte Kehrt und rutschte zum nächsten Stamm. Und dies weitere fünfzehn Male. Es war nicht immer leicht durchzukommen. Wer abbrechen musste, konnte die Höhenwanderung ein andermal fortsetzen. Die Hosen gewannen nicht an Eleganz dabei. Dass einmal einer der Buben des Theodor Federer herunterfiel und, ohne ein Glied gebrochen zu haben, eine Weile ohnmächtig liegen blieb, dämpfte unseren Wagemut. An den massiven Röhrengeländern, die zwischen den Bäumen ganz grundlos an Viehmärkte erinnerten, ahmten wir die Turn-, Trapez- und Balancierkünste nach, die wir auf dem Kurplatz als Zaungäste erspäht hatten. Zu den beliebtesten Spielen der Lindenplätzler gehörte, weil man dabei wie wahnsinnig rennen musste: «Um-en-Egg-Egg-Egg». Da gabs verschiedene Routen, die immer wieder bei der nahen «Schmitten-brücke» endigten. Kein Verkehr, kein Verbot hemmte unser wildes Jagen und unsere lauten Spiele.

Lindenplatz_Roth

War man erhitzt, stürmte man zum «Apothekerbrunnen», der damals an der Westseite der Engelapotheke aus einer Messingröhre sein erfrischendes Nass spendete. Dieses Durstlöschen dauerte unangefochten solange, bis wir herausgefunden hatten, dass, wenn wir das Wasser an der Röhrenöffnung mit der flachen Hand stauten, es im Innern der Apotheke irgendwo überlief, worauf jedesmal der Magaziner herausschoss, uns nachrannte und doch nicht erwischte. Dies konnte zu einem regelrechten Spiel ausarten. Waren wir müde, schauten wir bei der Schmitte zu, wie Pferde beschlagen oder Wagenräder bereift wurden, wobei das glühende Eisen im Wasser zischte. Als wir von der Hauptstrasse fortzogen, musste ich von meinem geliebten Lindenplatz Abschied nehmen.

Lindenplatz_Plan

Wir hatten damals keine Ahnung, dass knapp sechzig Jahre früher der Lindenplatz gar kein Platz, sondern ein völlig überbautes Stück Rorschach gewesen war mit kleinen Wohnhäusern, Werkstätten, Remisen und Stadeln. Nach der Ehratschen Karte und dem Lehenbuch des Reichshofes Rorschach, beide von 1786, die im Stiftsarchiv eingesehen werden können (LA 498), befanden sich auf dem Areal des späteren Platzes sieben Häuser, die dem Kornmeister Bartholomäus Eggmann, Columban Krämler, Constantius Krämler, Elisabeth Haim, Jos. Ant. Brun, dem Chirurgus Marx Anton Rothfuchs und Schreiner Hans Jörg Rothfuchs gehörten, ferner drei Stadel im Besitze der von Bayer und eine Steinhütte des Joseph Anton Loner. Also insgesamt 11 Liegenschaften. Dieses Bild zeigt auch der Ausschnitt aus dem Rothschen Stich von 1794 (Abb. 2). Vor dem Brand von 1850 waren die Häuser, z. T. umgebaut, wie zu erwarten, in andere Hände geraten (Abb. 3). Der Feuersbrunst fielen neun Häuser zum Opfer. Der dadurch entstandene Platz hiess «Brandplatz», bis dann Linden und später die sechzehn Kastanien gepflanzt wurden. Als das Kastanienrondell auf acht Bäume gelichtet wurde, pflanzte man in seine Mitte, seines Namens eingedenk, eine Linde, die aber keinen langen Bestand hatte. 1957/58 wurden bis auf die zwei noch stehenden alle Kastanienbäume entfernt, in der Absicht, keinen Autoparkplatz, sondern einen Rollschuhplatz mit einem Brunnen und einigen Bänken zu schaffen. Das Hemmersche Doktorhaus, das in seiner Alt-Rorschacher Schönheit bei Freilichtspielen als Bühnenhintergrund gedient hatte, wurde abgerissen und musste einem modernen Büro- und Wohnhaus weichen. Damit hat auch der vom Zubringerdienst berührte Lindenplatz sein ehemaliges Cachet verloren.

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